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Aurel Daugs: Mehr als nur ein Medienwandel – Digitalität im Spiegel der Schriftlichkeit

Das Digitale Zeitalter

Digitalität ist der prägende Zustand unserer Zeit und durchdringt nahezu alle Bereiche von Kultur, Wirtschaft und Gesellschaft. Oft wird sie jedoch lediglich als technische oder mediale Veränderung verstanden – als reine Umstellung vom Analogen hin zum Digitalen. Doch die Bedeutung der Digitalität reicht weit über diese Ebene hinaus. Digitalität und die damit einhergehende Verbindung zum Computer verändern nicht nur, wie wir Informationen verarbeiten, sondern auch die Art und Weise, wie wir die Welt wahrnehmen. Der Mensch sei programmierbar; die Welt ein globales Netzwerk. Auch in den geschichtswissenschaftlichen Diskursen dieses Digitalen Zeitalters spiegeln sich ähnliche Denkfiguren wider. Wenn etwa Andreas Fickers für ein „Update“ unserer historischen Hermeneutik plädiert, greift er bewusst auf eine Metapher aus der Logik der digitalen Welt zurück.1

Doch obwohl Digitalität längst als allgegenwärtiges Phänomen erscheint, bleibt ihr theoretisches Profil erstaunlich unscharf. Genau hier setzte das interdisziplinäre Masterseminar „Digitalität als (historisches) Konzept“ im Sommersemester 2025 an, das als gemeinsame Lehrverstaltung im Rahmen des Interdisziplinären Zentrums “Digitalität und digitale Methoden” von  dessen  beiden Sprechern Torsten Hiltmann (Digital History) und Roland Meyer (Westslawische Sprachen) betreut wurde. Gemeinsam haben wir zentrale Texte gelesen und diskutiert, wie das bislang unscharf definierte Konzept der Digitalität aus geschichts- und sprachwissenschaftlichen, aber auch kultur- und medientheoretischen Perspektiven beleuchtet werden kann. Dabei entstanden Fragen, die über die bloße Beschreibung technischer Entwicklungen und Ausdrücke des Phänomens hinausreichten: Wie prägt Digitalität Kultur und Gesellschaft und damit auch unsere Forschungspraxis? Welche epistemischen wie auch methodischen Konsequenzen entstehen, wenn wir Sprache und historische Erkenntnisse digital modellieren, verstehen und formalisieren wollen?

Das Ziel dieser Blogreihe ist es folglich, an diesen Überlegungen anzuknüpfen und die vorangegangenen Diskussionen weiterzuführen. Sie versammelt Ergebnisse aus dem Seminar und macht sichtbar, wie vielfältig Digitalität unsere Gegenwart bestimmt – als analytische Kategorie ebenso wie als alltägliche Erfahrung.

Verschriftung und Verschriftlichung

Um sich dem Konzept der Digitalität nähern zu können, eignet sich der Blick auf einen früheren, vergleichbaren Umbruch – den Übergang von Mündlichkeit zur Schriftlichkeit. In oralen Kulturen ist Wissen situativ gebunden – es wird im Sprechen erinnert, angepasst und verändert, wobei deren Form an Zeit, Ort und Gemeinschaft gekoppelt ist. Mit der Einführung der Schrift wird Sprache dagegen in materielle Objekte überführt und dadurch vom unmittelbaren Kommunikationsmoment gelöst; Texte werden zitierbar, sammelbar, systematisierbar und lassen komplexe Formen der Wissensorganisation zu. Der Romanist und Linguist Wulf Oesterreicher differenziert diesen Prozess begrifflich noch weiter aus: Als Verschriftung versteht er die reine Überführung vom Lautbild in das Schriftbild, also die Transformation einer Information vom einen zum anderen Medium; als Verschriftlichung hingegen die tiefergehende, konzeptionelle Umformung von Diskursen und Praktiken, die erst mit einer spezifischen Schriftkultur und dem Ausschöpfen der spezifischen Eigenschaften und Logiken der Schrift möglich wird.2

Abb.1: Geistlicher diktiert und beaufsichtig Kopist bei der Arbeit. Moralized Bible (MS M.240) fols. 8r. Paris, Frankreich, ca. 1227-34. The Morgan Library & Museum.

Digitalisierung und Digitalität

Die Digitalisierung kann demnach als Pendant der Verschriftung verstanden werden3. Schriften werden dabei von analog fixierten Objekten in distinkte, digitale Informationsrepräsentationen überführt – den Daten. Ähnlich der Verschriftung hat dieser Medienwandel längst die Vervielfältigung und Zugänglichmachung von Wissen in Form von digitalisierten und förmlich unendlich reproduzierbaren Texten, Bildern und Objekten erleichtert. Historische Quellen stehen heute millionenfach online bereit, oftmals in digitalisierten Sammlungen und Archiven. Doch der tatsächlich konzeptionelle Umbruch bleibt in vielerlei Hinsicht außer Acht. Zwar nutzen Historiker:innen digitale Bestände und bewegen sich in digitalen Infrastrukturen, sie greifen dabei jedoch weiterhin auf vertraute, analoge Gebrauchslogiken zurück. Texte werden auf dem Bildschirm gelesen, als ob es sich um Bücher handle; digitalisierte Handschriften werden wie Faksimiles betrachtet; Audioquellen werden abgespielt, als säße man vor einem Tonband.

Diese rein mediale Digitalität bedeutet, dass zwar ein neues Medium genutzt wird, die grundlegenden Formen des Umgangs mit den Inhalten aber unverändert bleiben.
 Wesentlich ist jedoch, dass durch die Digitalisierung von Informationen und Wissen ein eigener konzeptueller Nutzraum mit spezifischen Eigenschaften und Logiken geschaffen wird. Dies ist vor allem am Beispiel der Materialität ersichtlich: In der analogen Schriftlichkeit ist jede Änderung, Umstrukturierung oder Erweiterung mit einem Eingriff in das materielle Trägermedium verbunden. Ein Text muss beispielsweise neu geschrieben, ein Blatt neu angefertigt oder ein Objekt konkret physisch verändert werden. Angaben sind dabei an einzelne physische Exemplare gebunden, die in Bibliotheken und Archiven als singuläre Objekte verwahrt und über Kataloge erschlossen werden. Im Digitalen, hingegen, liegen grundsätzlich alle Informationen – seien es Texte, Bilder oder Töne – letztlich als Informationsrepräsentationen in Form kodierter Daten vor, die sich unabhängig vom einzelnen Träger flexibel speichern, kopieren und rekonfigurieren lassen. Dieselbe Information kann dabei in identischer Form vervielfältigt, über Systeme hinweg verknüpft und in immer neuen Kombinationen abgefragt, analysiert oder verändert werden, ohne dass dies unmittelbar an ein neues materielles Objekt gebunden wäre.

Die eigentliche Herausforderung – und Chance – beginnt also dort, wo man die Eigenlogik digitaler Daten nicht nur hinnimmt, sondern bewusst für neue Forschungsweisen nutzt. In diesem zweiten Schritt vollzieht sich ein Übergang von einer rein medialen zu einer konzeptionellen Digitalität. Anstatt digitale Quellen lediglich als Ersatz für analoge Dokumente zu behandeln, werden sie als Daten verstanden, die sich algorithmisch beliebig durchsuchen, verknüpfen, aggregieren und analysieren lassen. So entstehen methodische Ansätze (Netzwerkanalysen, automatisierte Mustererkennung, georeferenzierte Auswertungen oder die Auswertung riesiger Textkorpora), die im Rahmen der  klassischen Quellen-Modi undenkbar wären.

Dieser Wandel sollte demnach nicht als das Ende der hermeneutischen Methoden der Geschichtswissenschaft verstanden werden, wohl aber als ihre Erweiterung. Historiker:innen können so neue Fragestellungen an ihre Quellen entwickeln und bislang unsichtbare Strukturen durch die Auswertung von Daten sichtbar machen. Die konzeptionelle Digitalität markiert damit einen Umbruch von der bloßen Digitalisierung historischer Materialien hin zu einer datenbasierten wie auch algorithmischen Forschungspraxis, die die spezifischen Eigenschaften des Digitalen produktiv einsetzt und reflektiert.

Ausblicke der Blogreihe

Wie dieser kurze Überblick zeigt, erweist sich das Konzept der Digitalität als außerordentlich fruchtbares Feld für weitere Auseinandersetzungen. Vor diesem Hintergrund versteht sich diese studentische Blogreihe vor allem auch als Einladung, das hier skizzierte Erkenntnispotenzial weiterzuführen.

Tom Tschernig widmet sich hierfür den frühen Visionen der Digitalität bei Vannevar Bush und Alan Turing. Anhand ihrer Texte – „As We May Think“ (1945) und „Computing Machinery and Intelligence“ (1950) – zeichnet er nach, wie bereits in der Mitte des 20. Jahrhunderts diese zentralen Denkfiguren Digitalität als mediales beziehungsweise sogar schon als konzeptionelles Phänomen verstanden haben, und ordnet deren Ideen als Vergleichsgrundlage für die heutige Didaktik ein.

Im zweiten Beitrag der Blogreihe geht Mareike Schäffer der begrifflichen und theoretischen Vielschichtigkeit von Digitalität nach. Sie zeigt, dass der Begriff weit über seine technischen Grundlagen hinausweist und sowohl mediale als auch kulturelle Dimensionen umfasst. Dabei führt sie die hier dargelegte Unterscheidung zwischen medialer und konzeptioneller Digitalität weiter aus, um  aus einer kulturhistorischen Perspektive das Phänomen im Kontext von Felix Stalders Arbeiten zu verstehen. Eigenschaften wie Referenzialität, Gemeinschaftlichkeit und Algorithmizität spielen dabei eine zentrale Rolle.

Im letzten Beitrag reflektiert Astrid Schühle die Frage, was eine digitale Quelle eigentlich ist – und welche epistemischen, methodischen und ethischen Konsequenzen sich daraus ergeben. Aufbauend auf Überlegungen von Pascal Föhr und Dot Porter zeigt sie, dass digitale Objekte keine bloßen Abbilder materieller Vorlagen sind, sondern eigenständige Quellenformen mit spezifischen Eigenschaften. Schühle diskutiert dabei, wie sich historische Kritik von der Analyse des Materials hin zur Analyse der medialen und infrastrukturellen Bedingungen verschiebt und was dies konkret an neuen Kompetenzen von uns Historiker:innen abverlangt.


  1. Fickers, Andreas: What the D does to history: Das digitale Zeitalter als neues historisches Zeitregime?, in: Döring, Karoline Dominika / Stefan Haas / Mareike König und Jörg Wettlaufer (Hrsg.): Digital History: Konzepte, Methoden und Kritiken Digitaler Geschichtswissenschaft. Berlin, Boston: De Gruyter Oldenbourg, 2022, S. 47f. https://doi.org/10.1515/9783110757101-003. ↩︎
  2. Oesterreicher, Wulf: Verschriftung und Verschriftlichung im Kontext medialer und konzeptioneller Schriftlichkeit, in: Ursula Schaefer (Hrsg.): Schriftlichkeit im frühen Mittelalter. Tübingen: Narr, 1993 (= ScriptOralia, 53), S. 267—292. ↩︎
  3. Vgl. hierzu: Hiltmann, Torsten: Vom Medienwandel zum Methodenwandel: Die fortschreitende Digitalisierung und ihre Konsequenzen für die Geschichtswissenschaften in historischer Perspektive, in: Döring, Karoline Dominika / Stefan Haas / Mareike König und Jörg Wettlaufer (Hrsg.): Digital History: Konzepte, Methoden und Kritiken Digitaler Geschichtswissenschaft. Berlin, Boston: De Gruyter Oldenbourg, 2022, S. 13—44. https://doi.org/10.1515/9783110757101-002 . ↩︎

 


OpenEdition schlägt Ihnen vor, diesen Beitrag wie folgt zu zitieren:
Digital History Berlin (Redaktion) (8. Oktober 2025). Aurel Daugs: Mehr als nur ein Medienwandel – Digitalität im Spiegel der Schriftlichkeit. Digital History Berlin. Abgerufen am 10. November 2025 von https://doi.org/10.58079/14vna


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